Die Erde, auf der wir bauten

Wenn auch der landschaftliche Charakter einer Gegend im allgemeinen durch seine gesamte Vergangenheit bestimmt wird, so ist es doch gewöhnlich so, dass der eine oder der andere erdgeschichtliche Zeitabschnitt der Landschaft sein Gepräge in besonders starkem Maße aufgedrückt hat. So ist das freundliche Fleckchen Erde, wo sich unser neues Heim erhebt, für die Großsteinberger Gegend der Ausgang des Altertums der Erde, die ereignisvolle Rotliegendenzeit von wesentlicher geologischer Bedeutung geworden. Der Dorf nahe Windmühlenberg, die bewaldeten Brandberge, der Vogelberg, der Lindberg und die übrigen Erhebungen im weiteren Umkreise, sie sind alle Kinder jener Zeit. Weit, weit, durch unendliche Jahrmillionen hindurch muss unser geistiges Auge dringen, wenn wir uns in jene Periode versetzen wollen, in der diese Porphyrhöhen, die heute von tiefliegendem Sand und Kies und von oberflächlichem Geschiebelehm und Lößlehm umlagert und eingehüllt sind, als glutflüssiges Magma aus Schloten oder Spalten der Erdrinde quollen und in unberührter Jugend erstarrten.

Aber südlich von Großsteinberg, jenseits der Teich geschmückten alten, breiten, eiszeitlichen Strombetten, in denen die heutige Parthe und der Göselbach dahin pendeln, treffen wir Zeugen der Erdgeschichte an, die unsern Blick in noch viel größere zeitliche Fernen lenken.

Drüben bei Otterwisch und Hainichen ragen – so ähnlich wie bei Leipzig-Kleinzschocher – bis an die mit zahlreichen Lesesteinen gespickte Ackererde empor die Klippen eines uralten Sandsteines, einer „Grauwacke“, wie der Gesteinskundige sagt.

Dieses Gestein zwingt uns rückwärts zu schauen bis in das Morgenrot des Altertums der Erde, bis in Zeiten, wo unsere Heimat und weite Ländergebiete darüber hinaus noch den Boden eines Urozeans bildeten.

Aus den Schotter- Kies- und Sandmassen, sowie aus dem feineren tonigen Material, das die einmündenden Flüsse dem Urmeere zuführten, sind durch allmähliche Verfestigung der alte Grauwackensandstein und die ebenfalls im Wasser niedergeschlagenen gröberen Mischgesteine (Konglomerate) sowie die feineren Grauwackenschiefer entstanden, die wir bei Otterwisch in den Steinbrüchen antreffen. Dass diese Grauwackengesteine wirklich im frühen Altertum der Erde, in dem sogenannten Silurmeer abgesetzt worden sind, das lässt sich nachweisen an einer kleinen Muschel, die heute noch in unseren Meeren vorkommt, deren Dasein auf unserem Planeten aber bis in jene urfernen Zeiten zurückreicht. Man hat die Reste dieser Lingula, wie sie heißt, als Abdruck sowohl wie als Steinkern in dem sonst trostlos versteinerungsarmen Grauwacken von Otterwisch und Hainichen mehrfach gefunden.

Wenn die Schichten der einst waagrecht im Wasser abgelagerten Grauwackengesteine heutein einem Winkel von 20 bis 30° aufgerichtet sind, wenn sie klippenbildend bis an die heutige Erdoberfläche heran ragen, dann müssen sie Umlagerungen von ungeheurem Ausmaße erfahren haben, dann müssen sie wahrhaft gigantische Schicksale im Laufe der Erdgeschichte erlebt haben. Und das ist nachweislich der Fall. Vielleicht schon in der Devonzeit, wo der silurische Meeresboden infolge von Schollenhebungen als jungfräuliches Festland den Wassern des weichenden Ozeans entstieg, sicher aber um die Mitte der darauf folgenden Steinkohlenzeit sind die Grauwackenschichten des heutigen Nordwestsachsens zu einer Gebirgsfalte, zu einer starren Gesteinswelle aufgefaltet worden. Und gleichzeitig oder mindestens in geologischer Zeitnähe haben sich in Mitteldeutschland noch zahlreiche andere derartige Faltenwürfe aufgerichtet; darunter auch unser sächsisches Mittelgebirgsland und unser Erzgebirge. Alle diese Gebirgsfalten strichen von Südwesten nach Nordosten und lenkten an der Elbe in Sudetenrichtung nach Südosten ab. Vom ersten Augenblick an, wo diese Gebirgssättel aufstiegen, boten sie dem nagenden Wassertropfen Angriffspunkte und Angriffsflächen, so dass Aufbau und Zerstörung als unzertrennliche Begleiter Hand in Hand gingen. Wie unser landschaftlich so hochgeschätztes Alpengebirge, das sich wahrscheinlich heute noch in der Emporfaltung befindet, mit seinen starren Zinnen und Zacken, mit seinen Schuttkaren, seinen Klammen und Schluchten bereits das Bild eines wahrhaft grandiosen Zertrümmerungs- und Abtragungsprozesses zeigt, so mag auch bei jenen steinkohlenzeitlichen (karbonen) mitteldeutschen Gebirgsbildungen die Stunde der Geburt zugleich die Stunde des beginnenden Sterbens, des Vergehens und des Verfallens gewesen sein.

Im Anblick unseres fast tischglatten ebenen Leipziger Landes will es uns fast grotesk erscheinen, dass sich durch unsere Heimat elbwärts strebend die Welle eines Hochgebirges, eines Alpengebirges gezogen haben soll. Und doch ist es so. Als „Mitteldeutsche Alpen“, als „Variskisches Gebirge“ hat die Wissenschaft die Gesamtheit dieser Gebirgsfaltungen vergangener Zeiten bezeichnet.

Im Grundbau unserer heutigen deutschen Mittelgebirge kommt die Tektonik dieser Alpen von einst noch stark zum Ausdruck. Wo sind aber die Gebirgserhebungen unserer Heimat heute? – Tief, tief im Schoße der Heimaterde. unter weit ausgedehnten Lehm-, Kies-, Braunkohlen-, Sand- und Porphyrdecken, in Tiefen. die zum Teil nur das Auge der Wissenschaft erreicht, da liegt der felsige Rumpf unserer Alpen begraben, der übrig gebliebene Kern, der Stumpf dieser Uralpen. Ungeheure Zerrüttungen und Zertrümmerungen hat dieser Felsenrumpf erfahren. Unter mächtigen Erschütterungen der Erde rissen Spalten auf. Ganze Flügel sanken zur Tiefe. Andere wurden nach oben „verworfen“ und in hoch aufragende Kämme und Klippen verwandelt. Bei Otterwisch, Hainichen, bei Kleinzschocher und am Dewitzberg sowie an zahlreichen anderen Orten nach der Elbe zu, hat man die Klippen steinbruchmäßig abgebaut; teilweise tut man’s heute noch.

Mit Gebirgsfaltungsprozessen gehen im erdgeschichtlichen Geschehen immer gewaltige vulkanische Ereignisse Hand in Hand. Und so ist unsere Heimat, unser nordwestliches Sachsen, in der zweiten Hälfte der Steinkohlenzeit und in der darauffolgenden Rotliegendenzeit zum Schauplatz riesiger vulkanischer Ausbrüche geworden. Dämonenhafte Mächte aus Plutos unterirdischem Reiche türmten mit titanenhaftem Ungestüm aus glutigem Magma und heißen Aschenmassen trotzige Berge, breite Felsdecken und hohe Aschentuffhügel empor. Was die Menschheit in geschichtlicher Zeit an vulkanischen Katastrophen erlebt hat, das bleibt weit zurück hinter dem Geschehen, das damals unsere Heimat erschütterte und verheerte. Dunkle Dampf- und Aschenwolken verwandelten den Tag in düstere Nacht. Steine, vulkanische Bomben und ungeheure Aschenmassen prasselten, gemischt mit wolkenbruchartigen Regengüssen, herab. Breite Schlammströme wälzten sich daher und begruben die aus riesenhaften Schachtelhalmen, altertümlichen Nadelhölzer und hohen Farnbäumen bestehenden Wäldern. Rotglutige Lavamassen, die das Dunkel unheimlich durchleuchteten, bildeten hier runde Quellkuppen, dort breite Decken. Die herabstürzenden Aschenmassen, die kochend heißen Schlammfluten verhärteten zu ungeschichteten Tuffbergen und Tuffdecken. – Alle die zahlreichen Porphyrkuppen, die unsere Leipziger Tieflandbucht im Osten und Südosten umkränzen, die ihnen vorgelagerten Großsteinberger und Ammelshainer Höhen. die Burgen gekrönten Felsen von Colditz und Grimma, zwischen denen die Mulde in einem tiefeingeschnittenen malerischen Tale dahin rauscht, die Berge der Hohburger Schweiz. die jenseits der Mulde winken, die bewaldeten Porphyrkolmen, die aus der Beucha- Brandiser Gegend in das Leipziger Flachland herein grüßen, der sie alle überragende Rochlitzer Berg mit seinen berühmten roten Tuffsteinbrüchen und seiner weit spannenden Aussicht. die versprengten Porphyrhügel von Taucha und Cradefeld, in denen die Stadt Leipzig ihre Schottersteine bricht, die breiten Porphyrdecken, die sich bei Buchheim, Ebersbach, Frohburg und andernorts zum Teil unterirdisch dahinziehen und den Horst des alten einstigen Grauwackengebirges in großer Tiefe einhüllen, der weithin sichtbare. an geschichtlichen Erinnerungen so reiche Petersberg bei Halle, die aus blauer dunstiger Ferne im Norden grüßenden Landsberger Höhen – diese und viele andere Erhebungen der weiteren Leipziger Umgebung wurden damals in der Rotliegendenzeit geboren. Heute ertönt überall in den erstarrten Porphyrbergen das dumpfe Getöse der – Sprengschüsse, das lustige Klingen der Steinhämmer. das Poltern und Dröhnen der Schotterwerke. Das reich besiedelte Leipziger Land braucht Werksteine zum Bauen und im Boden des weichen Schwemmlandes.

In den alten „aufgelassenen„ Porphyrbrüchen haben sich vielfach stille „Bergseen“ gebildet, in deren klaren Wassern sich malerisch die mit grünem Moos und farbigen Flechten besponnenen steilen Bruchwände spiegeln.

Die Porphyre der Rotliegendenzeit, die uns im Leipziger Land in zahlreichen, nach Zusammensetzung und Farbe wechselnden Abarten (Varietäten) entgegentreten und die vielfach mit Zertrümmerungsschutt und Verwitterungsmassen der abgetragenen variskischen Berge wechsellagern, stehen in einer merkwürdig unmittelbaren Lagebeziehung zu den Ablagerungen der erdgeschichtlichen Neuzeit. Direkt über den oft stark verwitterten und stellenweise zu feinem, technisch wertvollem Ton umgewandelten Porphyren liegen die charakteristischen Ablagerungen der Braunkohlenzeit, die Sande, Tone und Kohlen dieser Zeit. Es fehlen hier in der Schichtenfolge des heimatlichen Bodens wichtige Blätter, Blätter mit interessanten Kapiteln der Erdgeschichte. Die Chronik der heimatlichen Erdentwicklung zeigt hier eine große, bedauerliche Lücke. Von der auf die Rotliegendenzeit folgenden Zechsteinzeit, von der Buntsandsteinzeit und vor allem von dem ganzen übrigen Mittelalter der Erde sagen uns die Ablagerungen im heimatlichen Boden herzlich wenig oder nichts. Das Zechsteinzeitmeer, das an Ausdehnung, Gliederung, Tiefe und Salzgehalt proteusartig wechselnd, dem deutschen Vaterlande seine großen Steinsalzlager, seine wertvollen Kalilagerstätten und den versteinerungsreichen Mansfelder Kupferschiefer schenkte, hat unsere engere Heimat nur mit der Randzone berührt und in den Plattenkalken und schönen bunten Letten (Tonen) von Geithain-Ottenhain seine Spuren hinterlassen. Dass nach der Zeit des Zechsteinmeeres unsere Heimat und weite Teile Deutschlands eine Sandwüste gewesen sind, deren bunte, von Samum-Winden durchfurchten und umlagerten Sande in der Folgezeit zu Sandsteinen verkittet wurden, das zeigen uns nur vereinzelte Vorkommnisse bei Bad Lausick-Hopfgarten und in den Taleinschnitten der Schnauder und Rippach. Erst weiter im Westen nach Thüringen zu, an der Elster und Saale, bei Klosterlausnitz und Eisenberg, da gewinnen diese Sandsteine Bedeutung. – Bedeutung für das Landschaftsbild und für die Architektur des Menschen. – Ganz spurlos ist an unserer Gegend jene Jahrmillionen umspannende Epoche vorübergegangen, die wir als das Mittelalter der Erdgeschichte bezeichnen und die wir in drei große Schöpfungsperioden einteilen, in die Triaszeit, die Jurazeit und die Kreidezeit. Während sich aus dem Muschelkalkmeer die 200 Meter mächtigen Muschelkalkbänke niederschlagen, von deren Höhen heute stolze Burgruinen in das freundliche Saaletal herabschauen, – während sich in dem von fabelhaften Ichthyosauriern und Plesiosauriern belebten Jurameer die gewaltigen Juragebirge Europas aufbauen, – während in den Flachseen der Kreidezeit sich aus den Kalkgehäusen unzähliger mikroskopischer Kleintiere die weißen, Feuerstein reichen Felsen der Schreibkreide, daneben aber auch die Quadersandsteine unserer Sächsischen Schweiz· bilden, liegt unsere Heimat – mit dem böhmischen Festlandmassiv verbunden – inselartig unberührt von diesem grandiosen Geschehen inmitten der umgebenden Ozeane.

Neuzeit und Gegenwart: Wie von einem dunklen Teppich ist unser Leipziger Land in der Tiefe von dem Hauptbraunkohlenflötz Westsachsens unterzogen. Auch hier im porphyrreichen Osten ist das Flötz vertreten. Drüben bei Otterwisch hat man es durch mehrere Tiefbohrungen festgestellt. Ein Versuch, die Braunkohle hier bergmännisch zu gewinnen, ist daran gescheitert, dass über dem Flötz wasserführende Sande, Schwimmsande, lagerten.

Da das Flötz bei Otterwisch eine Mächtigkeit von 3 bis 6 Metern aufweist, hätte sich der Abbau wohl gelohnt. – Die geologische Betrachtung der braunen Schätze unserer Heimat, sowie der Tone und Sande, in die sie eingebettet sind. versetzt uns bereits vollständig in die erdgeschichtliche Neuzeit.

Sie führte hinein in die sogenannte Braunkohlen- oder besser gesagt Tertiärzeit, in jene bedeutungsvolle Periode, in der unsere heutigen Alpen zu strahlender Schönheit aufstiegen, in der die südliche Flanke des Erzgebirges zur böhmischen Tiefe hinabsank, in der zwischen Schwarzzwald und Wasgenwald [älterer deutscher Name für die Vogesen] der Graben einbrach, der heute die lachenden Fruchtgefilde des Oberrheins birgt. Während in dieser katastrophal bewegten Tertiärzeit von der Eifel bis zu den schlesischen Gebirgen die Vulkane aufs Neue lohten und im Erzgebirge die charakteristischen Basaltberge der Tiefe entquollen, da lag unsere nähere Heimat als weite flache, nach Norden und Westen sich senkende offene Wanne da. Die Porphyrberge und Porphyrdecken der Rotliegendenzeit waren an der Oberfläche in Verwitterungsschutt zerfallen und das Wasser hatte die Verwitterungsprodukte als feinsandige und lehmige Schichten über das Wannenland hingebreitet. Über flachen Moordecken. die sich zwischen sanftwelligen Hügelrücken ausbreiteten, brütete ein feuchtwarmes subtropisches Klima. Laubbäume, wie sie unseren heutigen Wald zusammensetzen, daneben aber auch Zimt- und Feigenbäume, prächtig blühende Magnolien, Myrthen-. Lorbeer- und Oleanderbäume überzogen mit ihrem Grün die flachen Höhenrücken. Die Verlandungszonen der Sumpfgewässer waren mit dichten Sumpfzypressenhainen bestanden, in die mächtige Sequoien (Mammutfichten) eingestreut waren. Da das Land sich beständig senkte, konnten in regenreichen Perioden die vom Süden kommenden Gewässer die

Moordecken und Sumpfwälder unter ihre Sinkstoffe betten. Von Norden her drang infolge der Schollensenkungen zeitweise das Tertiärmeer ein. Bis in die Gegend von Rötha drang der Flachsee nach Süden vor. Marine Sande geben uns heute noch Kunde von der einstigen Meeresbedeckung. Bei Fuchshain, jenseits der Parthe hat man sie in einer Mächtigkeit von 30 Meter erbohrt. – Nachdem sich das Meer wieder nordwärts zurück-gezogen hatte, grünten noch einmal üppige Sumpfwälder empor, die zur Bildung kleiner, der jüngeren (miozänen) Braunkohlenzeit angehöriger Flötze führte. – Vom Braunkohlenabbau mit seinen charakteristischen Begleiterscheinungen ist der Ostrand der Tieflandsbucht noch verschont geblieben. Während im Süden und‘ Westen des Leipziger Landes gähnende Kohlengruben, mächtige Abraumhalden, fauchende Zechenbahnen, hohe Brikettfabriken, Schwelereien mit rauchenden Schloten, große Kraftwerke und moderne Arbeitersiedlungen Kunde geben von der Bedeutung, die die „braunen Diamanten“ der Erde für unsere Zeit erlangt haben, erzählen hier im Osten vorläufig nur einzelne Bohrungsstellen und wenige verfallene Gruben.von der unersättlichen Sehnsucht des Menschen nach den Schätzen der dunklen Tiefe.

Durch ein schmales Tälchen getrennt liegt nördlich vom Großsteinberger Windmühlenweg sein Gegenstück, der Senfsberg. Sein Gegenstück? Ja, aber nur sein landschaftliches Gegenstück, denn geologisch angesehen, ist er dem ersteren so unähnlich wie möglich. Er ist aufgebaut aus altem Muldenschotter und gibt uns, wie ungezählte andere Schotteraufschlüsse zwischen Elster und Mulde den Beweis an die Hand, dass die Mulde einstmals in mächtiger Breite von Grimma nach Leipzig geflossen ist. Wann das war? – Die subtropische Hitze, die einst die tertiären Sumpfwälder dem Boden unserer Heimat entlockt hatten, war einem kühleren Klima gewichen. In den Hochgebirgen Skandinaviens, in unseren Alpen, ja sogar auf den Höhen der deutschen Mittelgebirge häuften sich die Schneefälle.

Der Tertiärzeit war das Diluvium, die große Schneezeit oder, wie man gewöhnlich sagt, die große Eiszeit gefolgt. Bald quollen die Firnbecken der Gebirge über, und breite Gletscher schoben sich hinab in die Niederungen. Von den höchsten Höhen Skandinaviens breitete sich eine gewaltige Inlandeisdecke aus, die ganz Nordeuropa vom Ural bis Südengland unter sich begrub. In langsamer, zäher Bewegung schritt das Eis auch über unsere Heimat hinweg, alle ihre Porphyrberge in seinen kristallnen Mantel hüllend.

Der Lauf unserer Heimatflüsse, der Elster, Pleiße und Mulde war vor der Eiszeit nach Norden gerichtet. Als das nordische Eis sich unserer Gegend näherte, schob es mächtige Eiszungen in die damals sehr breiten Flußbetten vor. Riesige, haushohe Stauwehre von Eis zwangen die Flüsse nach Westen hin abzubiegen und auszuweichen. Damals bog auch die Mulde ihren nordwärts gerichteten Lauf bei Grimma allmählich nach Westen um und wälzte ihre durch Gletscherwasser verstärkten Fluten zeitweilig in zwei gewaltigen Armen nach der Saale zu. Überall, wo sie bei ihrer Wendung geflossen ist, hat sie mächtige Schottermassen hinterlassen, die sich ohne weiteres als „Muldenschotter“ erweisen, da sie teilweise 20 bis 30% Steingerölle aus der südlichen Heimat der Mulde enthalten. Welch wechselvolle Schicksale die Eiszeitmulde in Bezug auf die Höhenlage ihres Laufes durchgemacht haben mag, geht daraus hervor, dass die von ihr abgelagerten Schotter auf dem Senfsberge 30 Meter höher liegen als in dem gewaltigen Grubenaufschluss an der Naunhof-Großsteinberger Straße. – Zwischen Großsteinberg und Pomßen nach Naunhof zu erweitert sich das alte Muldenbett zu einer weiten Ebene mit ganz waagrechter, tischglatter Oberfläche. Die vollständige Ebenflächlichkeit das alten Muldenbodens ist hier geradezu überraschend. ,,Wohin sich der Blick wendet, überall dieselbe monotone, fast mathematische Ebenheit. In schnurgerader Richtung läuft der Schienenweg von Naunhof nach Nord und Süd. Fünf Kilometer vermag das Auge demselben folgen, ohne durch einen wenn auch noch so unbedeutenden Bahneinschnitt oder durch die geringste Krümmung aufgehalten zu werden. Dieselbe Flachheit herrscht auch nach Ammelshain hin, bis wohin das Niveau der wellenlosen Fläche kaum um einen Meter schwankt. Es ist dies ein alter Talboden, wie er vollkommener nicht gedacht werden kann. Fast 70 Meter ragen die Großsteinberger Porphyrkuppen im Osten über diese Ebene hervor. Vergeblich sucht heute das Auge den Fluss, der diese breite Talebene schaffen konnte. Die Mulde hat längst wieder ihren Lauf nach Norden verlegt. Die kleine Parthe windet sich träge durch die breite Talaue. Wie ein Bettler in einem weiten Prunkpalast, „wie eine Maus im Löwenkäfig“ nimmt sie sich aus. – Dass sich in der Tiefe der horizontal geschichteten Muldenschotter in der Richtung des alten eiszeitlichen Muldenlaufs ein gewaltiger Grundwasserstrom langsam dahin bewegt, aus dem mittels zahlreicher Bohrbrunnen die Stadt Leipzig einen wesentlichen Teil ihres Trinkwassers entnimmt, ist zu erkennen, als dass es hier ausführlicher Erwähnung bedürfte. Heute sind die Schotter mit einer mehr oder minder dicken Schicht von Geschiebelehm bedeckt, der nach Osten zu bei Klinga und Großsteinberg von Lößlehm abgelöst ist. Der Geschiebelehm, der reich mit nordischen Gesteinsresten, besonders auch mit Feuersteinen gespickt ist, ist die Grundmoräne, die das Inlandeis bei seinem Rückzug nach Norden in unseren Breite­n zurück ließ. – Wenn das Inlandeis von Norden nach Süden vorstieß – und das ist in unserer Heimat zweimal geschehen – dann pflügte es wie ein Riesenbagger die Erde unter sich auf. Es brach gewaltige Blöcke und Platten der norwegischen und schwedischen Felsgesteine los, es hob ganze Schollen der Feuerstein reichen Kreidefelsen auf Rügen und in den baltischen Provinzen ab, es presste die ungeheuren Lager von weichem Ton und lockeren Sanden in der norddeutschen Ebene auf und schleppte alles im Weiterschreiten und Weitergleiten als Grundmoräne, eingebacken in das Eis seiner Sohle, mit sich fort. Und als die gewaltige Inlandeisdecke, die teilweise eine Dicke von 1000 Metern erreicht hatte, sich endgültig nach Norden zurückzog, da ließ sie als kostbares Geschenk den mit Steinen und Blöcken gespickten zähen Lehmbrei seiner Grundmoräne zurück, als sogenannten Geschiebelehm. Er bildet heute die fruchtbare Ackererde unserer Felder mit ihrem Reichtum an Lesesteinen, mit ihren zahlreichen einsamen Irr- oder Wanderblöcken in stiller Feldflur. Er ist bei uns sowohl wie in seinen übrigen Verbreitungsbezirken zur Grundlage der heutigen Kultur geworden.

Er hat mit seinem Feuersteinreichtum dem eiszeitlichen Menschen die ersten primitiven Werkzeuge dargeboten; er hat späteren Geschlechtern den Ackerbau ermöglicht und damit eine Menschheitsentwicklung entbunden, die hinaufführt bis in die klassische Zeit Goethes und darüber hinaus in unsere durch hochentwickelte Technik und ebenso große Seelenverarmung gekennzeichnetes Maschinenzeitalter.

Nach der Mächtigkeit, in der dieser Geschiebelehm aufgelagert ist, und nach der Wasserdurchlässigkeit seiner Unterlage richtet sich die Bedeutung, die er für die heutige Feld- und Waldkultur hat. – Die Flüsse von heute, die Parthe und die ihr zufließenden Rinnsale haben bei der Flachheit des Landes wenig gestaltende Kraft entwickeln und wenig eigene Ablagerungen hervorbringen können. Der Aulehm, der sie begleitet, eignet sich wegen seiner tonigen Beschaffenheit und nassen Lage nur zur Wiesenkultur.

Wenn wir heute von den bewaldeten Großsteinberger Höhen ins Leipziger Land hineinschauen, wenn wir die breite Talaue mit ihren Feldern und Forsten, die blinkenden Teiche, die mit Wiesengrün begleiteten Bäche und Rinnen, die in das Grün segenspendender Obstbäume hinein gebetteten Dörfer schauen, so wissen wir, dass das alles in seinen letzten Daseinswurzeln mit dem gewaltigen erdgeschichtlichen Geschehen längst vergangener Jahrmillionen zusammenhängt. Nirgends kann die Landschaft die Züge verleugnen, die ihr die Weltenjahre erdgeschichtlicher Vergangenheit aufgedrückt haben. Und mag auch der Mensch noch so umgestaltend auf seine Heimat eingewirkt haben, überall ragt doch die Urnatur des Landes durch die dünne Decke menschlicher Kulturbeeinflussung hindurch, denn: ,,Gewaltiger als der Mensch ist die Natur, die ihn selbst mit unlösbaren Banden umspannt.“

Auszug aus:
Manfred Kryzeminski – Familienbuch Pomßen und Großsteinberg vor 1765
erschienen im Cardamina Verlag, 2011, Seiten 400 – 407
Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung